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Spaziergang mit einem Riesen

Es ist Frühling. Die Luft ist kalt und erinnert noch ein wenig an Schnee. Im Goethepark in Weimar fließen die Wasserläufe zu schnell für diesen ruhigen Tag, ein schwarzer Vogel mit einem langen hellen Schnabel rast an uns vorbei. Es könnte ein Kormoran sein. Aber das erscheint mir doch zu fantastisch. Es ist März und ich laufe durch den kühlen Park, gehe spazieren mit einem Riesen.
Sven heißt er, und man nennt ihn den Riesen, weil er wirklich groß ist. Über zwei Meter. Den haut nix um. „Warte kurz, ich muss anhalten“ sagt er und dann stehen wir und lassen die NordicWalker durch, die staunend zu ihm aufschauen. Der Riese ist 50 Jahre alt und schnauft, wenn wir eine kleine Anhöhe hochlaufen müssen.

Vor eineinhalb Jahren hat es den Riesen gefällt. Eine Bindegewebsstörung führte dazu, dass eine Wand der Hauptschlagadern riss, ganz nah am Riesenherz und sich ein Aneurysma bildete. „Das habe ich alles erst im Nachhinein verstanden. Ich hatte heftige Schmerzen in der Brust und rief meinen Cousin an, der Arzt ist. Er befahl mir, an Ort und stelle zu bleiben. Von dort brachte er mich ins Krankenhaus und dann ging es mit dem Hubschrauber in die Herzklinik und ab auf den Tisch.“ Einen Monat lang dauerte es, bis der Riese wieder auf die Beine kam, dazwischen eine Woche Koma, absolute Stilllegung des Körpers, nur das Gehirn wurde versorgt. Er musste wieder laufen lernen, doch konnte nichts mehr so wie früher. Der Riese hatte seine Kraft verloren, mit der er seit fast zwanzig Jahren Autoren und Künstler unterstützte.

Der Riese war der Mann, der immer für sich selbst verantwortlich und doch für alle da war. Seit fast 20 Jahren war er mit den Leuten der schwarzen Szene unterwegs, zu Hause bei den Reisenden. Er war unterwegs in der Welt, bis nach China hat es ihn getragen. Ich frage ihn nach seiner absurdesten Reise. „Tunesien, all inklusive“ sagt er. Er ist ehrlich, das war er schon immer. „Ich wollte eigentlich Abitur machen, durfte ich aber nicht.“ Es wurde ihm verboten, weil er bei der Musterung auf die Frage, ob er nicht seinem Land etwas zurückgeben und es vor dem Überfall aus dem imperialistischen Ausland schützen wolle, antwortete: „Ich habe mit meinen Verwandten aus dem Westen gesprochen. Die wollen uns gar nicht überfallen.“ Zur Armee durfte er mit dieser Einstellung nicht, zum Abitur aber eben auch nicht. Er machte eine Ausbildung als Gärtner, später den Meister. Doch damit war er zu teuer im Osten der Republik. Er schwenkte um zu EDV-Jobs, baute Webseiten und begann irgendwann Marmeladen und Liköre aus Streuobst herzustellen. Damit landete er auf Mittelaltermärkten und lernte die Menschen kennen, die heute eine Gemeinschaft sind, die ihn stützt. Dass diese da ist, musste er erst erfahren. Vielleicht hat ihm das das Leben gerettet.

Der Riese ist auf der Suche nach einem neuen Sinn, nach Arbeiten, die ihm Freiheit verschaffen, weil sie bezahlt werden. Doch wohin mit einem Riesen, der nicht mehr anpacken kann? Vor wenigen Wochen noch verzweifelte er über dieser Frage. Dann entschied er sich, seine Geschichte zu erzählen, sich zu zeigen, auch in seiner Schwäche. Im letzten Jahr haben das Freunde für ihn übernommen und um Spenden gebeten. 13.000 Euro sind zusammengekommen. Die Menschen retten gerne Riesen. Jetzt hat sich Sven bei Patreon, einem Netzwerk, in dem man Künstler direkt unterstützen kann, mit dem Namen Thoran W. angemeldet. Und plötzlich ist da ein Netz, die Sicherheit, dass man nicht allein ist, die Erkenntnis, dass irgendwann zurückkommt, was man gegeben hat. „Selbst ein ehemaliger Schüler unterstützt mich jetzt. Das rührt mich sehr“ freut er sich, während wir an Goethes Gartenhaus vorbeilaufen. Sven, der in Weimar geboren ist, erzählt mir, dass es eine Kopie des Gartenhauses gibt. Gebaut, um Besucheranstürmen zu begegnen. Die Kopie steht jetzt in einer anderen Stadt. Wir lachen und schütteln den Kopf. Wir sind wohl beide Freunde von Originalen.

Während ich darüber nachdenke, wie so ein Riesenherz aussieht, denkt Sven darüber nach, was er kann. Er vergleicht sich mit anderen, die schreiben, Kunsthandwerk machen oder schmieden. So gut sei er nicht, dass er das verkaufen könne. Er hat im Grunde auch gerade keine Zeit dafür. „Morgen werde ich filetiert“ sagt er mir zum Abschied. Die nächste Operation steht an, wieder Herzstillstand, wieder die Maschine, totale Abhängigkeit und die Angst, dass danach alles noch schlimmer wird.

Ich sehe ihm nach und weiß: Riesen sind groß. Auch wenn sie liegen. Und erst recht, wenn sie wieder aufstehen.

Juliane Uhl


Wenn Ihr den Riesen unterstützen wollt: Ihr findet ihn hier https://www.patreon.com/ThoranW