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Gelesen: Immer noch wach

Alex ist 30, also ein klein wenig zu alt, um jung zu sterben. Dennoch steht ihm sein Tod bevor, nur noch vier Monate sollen es sein. Alex hat Magenkrebs, mit Aussicht auf Verbesserung. Aber alles nur palliativ, Heilung ist unmöglich.

Alex Vater hatte auch Magenkrebs und starb elend, als sein Sohn noch ein Kind war. Doch das ist über zwanzig Jahre her und heute wäre viel mehr möglich. Doch Alex hat seinen Vater gesehen, leiden, hilflos. Er musste mit seiner trauernden Mutter leben, die die Erinnerungen an den Vater lieber in sich verschloss, als sie mit ihrem Sohn zu teilen. Die Wunde, die die lebende Mutter und der verstorbene Vater in der Seele des Kindes hinterlassen haben, macht es ihm unmöglich, zu hoffen. Alex entscheidet sich, in ein Hospiz zu gehen und zu sterben, allein, ohne die wichtigsten Menschen in seinem Leben – Lisa und Bene, seine Freundin und sein bester Freund.

Fabian Neidhardt schreibt und spricht, er sitzt in Fußgängerzonen mit der Schreibmaschine und schreibt Texte auf Zuruf. Mit Immer noch wach veröffentlicht er das erste Buch in einem Verlag und landet einen Volltreffer. Die Geschichte von Alex und seinem abzuschließenden Leben trifft mitten in die Eingeweide des Lesenden: Tief ins Herz, weil es so traurig ist, wenn ein junger und fröhlicher Mensch sterben soll. Tief in die Nieren, weil sich in Alex´ Gedanken die eigenen Fragen an das Leben spiegeln und tief ins Hirn, weil man nach dem Lesen irgendwas im Leben ändern will.

Immer noch wach ist die Geschichte eines jungen Mannes, der aus den Zuständen Krankheit und Tod erzählt und nicht darüber. Es ist ein Buch aus dem Mittendrin. Und während Alex in Rückblenden seine Beziehungen zu Bene und Lisa Revue passieren lässt und an den Vater denkt, liegt die Zukunft glasklar vor ihm. Er wird sterben und ist am Ende im Hospiz auch irgendwie in seinem Verlust des Seins angekommen. Doch dann macht die Geschichte kehrt, eine neue Diagnose schmeißt alles um. Alex wird leben, doch sein Leben ist vorbei. Er war bei seiner eigenen Beerdigung, er hat sich von allen verabschiedet, alles gekündigt und überschrieben. Alles steht scheinbar auf Null. Doch natürlich kehrt er zurück und findet sein Umfeld vor, wie es war, nur eben ohne ihn. Er ist nicht mehr eingeplant und so startet seine Zukunft jetzt, wenn er wagt, sich darauf einzulassen.

Immer noch wach ist eine Parabel auf das Leben, denn wir alle werden sterben und haben nur eine beschränkte Lebenszeit. Dass wir den Zeitpunkt des Endes nicht kennen, macht es uns möglich, die Dinge, die wir lieben, in die Warteschleife zu stellen. Doch wir leben mit dem Risiko, dass es vorbei ist, bevor es richtig angefangen hat. Wie Alex scheinen viele Menschen erst dann das wirklich, eigene Leben zu ergreifen, wenn es zeitlich begrenzt, wenn es bedroht ist. Doch darauf sollte man nicht warten. Die Erzählung von Alex zeigt, dass Leben jetzt ist, dass alles plötzlich anders sein kann und dass es vor allem eins braucht: Mut: Mut zur Veränderung, Mut zu eigenen Entscheidungen und Mut zu Beziehungen, die nie manifest, aber immer lebendig sind.

Fabian Neidhardt hat ein Buch geschrieben, das voller Sehnsucht nach Leben, voller Liebe zu den Menschen und mit einem ganz feinen Gespür für die Zerstörung von Fassaden ausgestattet ist. Wo alle ein Blatt vor den Mund nehmen, schreibt er aus dem Kopf eines jungen Menschen, der im Hospiz einzieht, so als wäre es ein „Ferienlager“. Ein Ferienlager aus dem man nie zurückkommt - eigentlich.


Fazit: Ein absolut großartiges Buch, das wir allen ans Herz legen. Und an die Nieren und ans Hirn.
 



Fabian Neidhardt | Immer noch wach | Haymon Verlag - 22,90 Euro